besteht darauf, dass er Journalist und kein Künstler sei. Ein Journalist im Sinne einer Person, die immer an der Frontlinie
steht und sich keine Fehler leisten darf. Zieht man jedoch seine eigene Definition von Kunst heran – Kunst als eine über
den physischen Zustand des Nutzen und Gebrauchend hinaus gehende Instanz – kann man ihn zweifellos einen Künstler
nennen. Oder wäre es treffender, ihn einen akribisch arbeitenden Kulturanthropologen zu nennen, der die Inhalte
des täglichen Lebens einer japanischen Gesellschaft bewahrt? Durch das Medium Fotografie und das Schreiben von Texten
erzählt er seit über 20 Jahren eine Geschichte der Kultur Japans, die man nur abseits der Massenmedien findet. Kyoichi
Tsuzuki zeigt mit seinen Arbeiten einen anderen Blick auf eine von Formalitäten, Traditionen, Regeln und Pflichten
beherrschte Gesellschaft. In seinen über die Jahre entstandenen Fotoserien führt Kyoichi Tsuzuki den
Rezipienten vorbei an Hochhäusern und Leuchtreklamen zu den intimsten Ecken des privaten Lebens. Dorthin, wo sich unter
formellen Anzügen und hinter routinierten Beziehungen das Wilde und Obsessive Zuhause fühlen. Seine Arbeit ist
dokumentarisch, doch die Vielzahl seiner Fotos spricht für sich – jede Serie umfasst einige Hundert Fotos.
Die Serie ‹Happy Victims› stellt kleine Apartments der Mega-Metropole voll bepackt mit einer Unzahl von oft unnützen und
vergessenen Objekten aus. Räume, in denen sich Kleider der Lieblingsmarken und Spielzeugsammlungen erdrückend stapeln.
Die Lust in eine andere Haut zu schlüpfen, wird in der Reihe ‹Cosu-play› thematisiert. Mit ausgeflippten Accessoires und
Kostümen verwandeln sich die Personen auf den Bildern in Manga-, Anime- oder Komikbuch-Charaktere. Wie aus Sehnsüchten
Wirklichkeit wird, zeigen die Bilder ‹Tokyo East› und ‹Weekend Hardcore› anhand von spezifischer Kleidung, Rollenspielen oder
der Darstellung der sogenannten ‹imekura› (nach unterschiedlichen Vorlieben gestaltete Bordelle). ‹Karaoke Nation› zeigt die
individuelle Freiheit beim Karaokesingen. Die Sammlung aus der Serie ‹Roadside Japan› besteht aus mädchenhaft gekleideten
Sexpuppen, die oft wie reale Frauen behandelt werden. Auf dem Bild ‹Tokyo East› sieht man zahlreiche Sexmuseen entlang der
Landstraßen. ‹Love Hotels› ermöglichen das Eintauchen in die Tiefen verschiedener sexueller Fantasien.
Gedimmtes Licht, grelle Farben und offenes Verlangen sind ausschlaggebend für die Atmosphäre in Kyoichi Tsuzukis‘ Bildern.
Gestörtes Gleichgewicht ist sein erstrebtes Lebensmotto. Das Sujet seiner Arbeit ist die Frustration über die geringe soziale
Akzeptanz des privaten Lebens und die Versuche diese zu überwinden. Die kreativen Formen der Auslebung finden in den
Bildern ihren Weg an die Oberfläche. Frustration ist so kurzlebig, «wenn ich sie nicht einfange, wird sie bald weg sein»,
beschreibt Kyoichi sein Vorgehen. Für ihn sind gerade Dinge wie Ungleichgewicht, Frustration und Hunger, die schwachen
Seiten einer auf der anderen Seite sehr straken und starren japanischen Gesellschaft, eine zentrale Quelle von kreativer
Energie.
Kyoichi Tsuzuki macht keine Bilder des glamourösen Japans mit seinen Klischees von Hightech und kontemplativen
Traditionen. Nur unerwartet persönliche, verletzliche und direkte Berichte von Menschen, die sich mit Mode, Sexualität,
Verrücktheiten oder sonderbaren Objekten beschäftigen. Nur Obsessionen. Nur Hardcore.
Kateryna Botanova
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Kyoichi Tsuzuki
Geboren 1956 in Tokio. Von 1976 bis 1986 arbeitete er als Journalist in den Bereichen zeitgenössische Kunst, Architektur,
Design und Urban Life für tokioter Trend Magazinen wie ‹Popeye und Brutus›. Von 1989 bis 1992 veröffentlicht er das Buch ‹Art
Random›
(Kyoto Shoin) und einen Leitfaden zu 102 Monografien über die Kunst der 1980er Jahre. Danach begann er, auf den
bereits genannten Gebieten, auch unabhängig zu veröffentlichen. 1993 brachte er sein Buch ‹Tokyo Style› (Kyoto Shoin, US
Chronicle Books Edition, 1999) heraus, das eine erweiterte Foto-Dokumentation über die echte Lebensart der Menschen in
Tokio ist. In den folgenden fünf Jahren hatte er einen Fotoreisebricht mit einer Kolumne im SPA! Magazin. Dort zeigte er die
merkwürdigsten Attraktionen an Japans Strassenrändern. Dieses Werk wurde 1996 in einem Einzelband (2000 als
Taschenbuch) unter dem Namen ‹Roadside Japan› veröffentlicht und gewann den 23. Ihei Kimura Fotografie Preis. Vom Herbst
1997 bis zum Frühling des Jahres 2001 fotografierte Kyoichi nicht professionell gefertigtes Design auf der ganzen Welt und
veröffentlicht die Bilder in der 20-bändigen Serie ‹Street Design File› (Aspect). 2001 veröffentlichte Universe for Rent seine 850
seitige Forschungsarbeit über den japanischen Wohn- und Lebensraum. Fortlaufend arbeitet er in Japan als auch im Ausland
an der Erforschung von Neuem und Aussergewöhnlichem. Seit Januar 2012 publiziert er regelmässig jeden Mittwochmorgen
das Email-Magazin ‹Roadside›.